Prosa


MARA


ei. ei ist nervig, weil widerspenstig. nicht am anfang, aber am ende. während ich die pfannenreste der eierspeise aus dem abfluss klaube, denke ich. treiben meine gedanken. drifte ich ab. verlieren sich in mir und ich mich in ihnen. arda. reis. reis muss ich noch kochen. erst butter. dann reis. dann salz. arda. nein, erst topf. geschirrspüler ausräumen. verneigen. vor arda. messer. meist sind es die löffel, die in der überzahl sind. löffeln, gelöffeltes essen. vor arda verneigen. vergehen. in ardas armen. das kinderbesteck. das kind. ein kind haben. verneigen vor dem kind. verneigen vor dem muttersein. demütig. dankbar. vor arda nicht. nicht demütig. nur dankbar. kein kind mit arda haben. aber genährt werden, von arda. in der tiefe genährt werden. und heilen. heilsames vergehen in ardas armen. glasschalen. glas mögen, glas und spiegel und spiegelungen. heil sein. mein heiler sein. verwundet sein. vom leben verwundet sein. reis. körner. korn für korn wie erlebnis für erlebnis. unendlich viele. linsen dazumischen. für die schwierigen erlebnisse. und bohnen. für die ganz schlimmen. alles wieder auseinander sortieren. alles wieder auseinander sortieren können. keine vermischung. keine verwirrende vermischung. keine verwirrende vermischung zum sich darin verirren. zwiebel dazuschneiden? heute nicht. langsamkeit. von meinem denken erzeugte langsamkeit meines handelns. langsamkeit. arda. wegdriften. und wenn die küchenuhr läutet – hingehen, abdrehen. später weitersehen. und wenn die türglocke läutet – nicht hingehen. nur weitersehen. und wenn das telefon läutet – vielleicht hingehen. weitersehen. und weiterdriften. bei arda sein. arda, arda, arda. ganz nah bei arda sein. und schmelzen. schneiden, reinschneiden, sich beim doch zwiebel schneiden reinschneiden. blut. arda! lässt du mich in deinem schweigen ertrinken? arda! arda, der dachte, seine schläge würden mich befreien, und entdeckte, dass ihm seine sanftheit viel gewaltigere türen zu mir öffneten, und entdeckte, dass ihn das erschreckte, bis er das heilsame darin fand und sich dem geschehen hingab, unterordnete, erfüllungsgehilfe einer rettenden lebensgewalt wurde. und finn, der mich rausreisst. rausreisst mit seinem anruf, rausreisst mit seiner ungehaltenheit. „wo bleibst du? mara? wo bleibst du, mara?“ ja, wo bleibe ich, wo bin ich geblieben, wo bin ich bloss abgeblieben? in ardas armen hängengeblieben, oder schon davor irgendwann irgendwo, in mir. und es packt mich, es wirft mich nieder, ich möchte meine innere landschaft bis zur bedeutungslosigkeit reduzieren, und mich darin auflösen, an einen nullpunkt kommen, und neu und nackt beginnen mit mir und der welt. und kurz erschreckt es mich, weil was bin ich, wenn ich nicht mehr dieses ich bin. und das kind, das kind, das kind. du musst dauernd den tisch wischen, aber du bist glücklich, im kern deines mutterseins. und in den schichten darüber ist manchmal alles zu viel, vor allem wenn du es allein machen musst, nur mit deiner energie. die verantwortung, und das management, und das gut genug sein, und das gegen-den-strom-leben, und das gegen-den-strom-leben vorleben und das bei all dem entspannt bleiben, entspannt genug bleiben. immer das genug sein, nicht das vollkommen sein, nein, das brauchen wir nicht, aber das genug sein, selbst das genug macht sich immer wieder davon in fast unerreichbare ferne. und mit finn da herumsitzen, bei einem heurigen herumsitzen, und rundum die leute. und dieses staunend sie betrachten, beinahe fassungslos, sie beneiden um ihre einfachheit, reduziertheit, um das so frühe ende im denken, und die frage, die unbeantwortbare frage, woraus sie schöpfen, woraus schöpfen diese leute, und wie sind ihre hände gemacht, dass sie damit so gut ihr unglück und ihr glück halten können, und ihre lieder singen, ihre lieder singen und sich fortpflanzen und sich sterben lassen, sich tot sein lassen ebenso willig wie sie sich leben lassen. und vielleicht, vielleicht sind sie sogar lebendig, ich weiss es nicht, ich weiss nicht, wie viele farben ihr gefühlsleben hat, und ich staune und ich denke einfach nur, immmer wieder, ich möchte sein wie sie, ich möchte sein wie sie. arda. und er kommt und er geht und er war eigentlich nie richtig da bis ich einmal in seinen armen gestorben bin, seither gibt er sich ganz und nimmt er mich ganz, und ich kenn mich endlich aus. arda, der vom ertrinken spricht, und mehr noch vom versinken, und seiner sehnsucht danach, wegen dem nicht schwimmen können, das ihm nie wer gelernt hat, und selber hat er es auch nicht geschafft. ich hab das mit dem leben noch nicht richtig kapiert, ich bin nah dran, ganz nah, ich spür es schon, manchmal zerreisst es mich fast, weil ich dieses letzte, entscheidende teilchen nicht einfügen kann ins bild. mama. mama, stör ich dich, stör ich dich bei deinem leben oder bei deinem nicht leben können oder kannst du es gerade durch mich, soll ich dein leben können sein? mama, was soll ich tun mit deinen abwesenheiten, was soll ich tun. mama, ich will einfach ein kleiner junge sein, ein kleiner junge. mama. es ist gut, mein kind, es ist gut. sieh - ich bin reich, mein kind. dein reich, mein kind. adieu, mein leben, ich lass dich los, adieu, mein leben. das mich nicht trägt, nicht birgt, das mich schlägt und mich treibt, mich vor mir selbst hertreibt. adieu, mein leben, adieu, adieu mein lebensanteil der mir nicht gut ist, mir nie gut war, adieu, ich lass dich, verlass dich, verlass dich. und flüster mir nicht, ohne mich bist du nichts, flüster mir nicht, was bist du denn, ohne mich, brauchst mich viel zu sehr, bin dir zu gewohnt, zu mir wirst du immer wieder zurückkriechen, selbst aus deinem letzten staub. sag mir das nicht, das bin ich nicht, nein, sosehr, sosehr brauch ich dich nicht, nein. ohne dich werde ich sein, was ich immer schon war. und arda. auch dich brauch ich nicht. ich brauch dich nicht. und brauch dich doch. ach, am besten verschwindest du, in irgendein loch. und ich brauch dich, ich brauch dich doch. arda. arda! und ich versinke und ich lache und ich träume und ich komm wieder zurück immer und immer wieder zurück und endlich, endlich bin ich wirklich und wahrhaftig da. danke. es tut mir so gut, wenn ich nichts habe vom zu viel und nichts vom zu wenig, nur gerade genug von diesem genug. danke. aber wie soll ich weitergehen wenn du meine hand los lässt, wenn mich deine hand loslässt, wenn sie mich loslässt, deine hand. dann setz ich mich auf einen stein und wein. und dann lass ich mich fallen, lass ich mich treiben, und werd mich mir selbst einverleiben und mich neu gebären und dann lass ich das leben, dann lass ich das leben und alles gewähren. in dankbarkeit. es ist so weit, arda, es ist so weit. ich lass dich. in dankbarkeit.


ZWISCHENRÄUME oder

DER FISCHKUSS DER TANTE IM KAFFEEHAUSWIRBEL


Mühsam schleppt sie sich nach Hause. Den Blick zu Boden gerichtet, setzt sie Schritt vor Schritt. Hilde, Hilde Lassner. So stellt sie sich immer vor. Immer seltener sind die Gelegenheiten dazu geworden. Sie nickt seufzend vor sich hin. Dann bleibt sie stehen, stellt für einen Moment ihre Taschen ab, um sich auszuruhen. Sieht durch die große Fensterscheibe schräg gegenüber. Junge Leute, keiner älter als fünfzig. Rauchen und trinken und reden und lachen oder sitzen einfach alleine da. Das hätte sie nie gemacht, alleine in ein Lokal gehen. So, wie die Dunkelhaarige, die da telefoniert. Und heute würde sie es schon gar nicht machen. Verständnislos schüttelt sie den Kopf. Und geht weiter.


Ellen hatte Glück. Ein Fauteuil war frei. So, wie sie es sich vorgestellt hatte. Ein Fauteuil, wie er für sie sein soll. Nicht zu hart und nicht zu weich, schön breit und mit hohen Armlehnen. Und was jetzt? Nachdenklich lehnt sie sich zurück. Läßt ihren starrenden Blick über die anwesenden Menschen gleiten. Bleibt dort und da hängen - am Blusenärmel dieser jungen Frau, auf der Tischkante zwei Tische weiter, dann auf ihrem Schuh. Es ist eine angenehme Raumtemperatur hier. So wird sie es noch eine Weile aushalten. Falls es ihr nicht doch zu kalt wird. Wenn sie einen so tiefen Ausschnitt wie heute trägt, ist das oft der Fall. Sie kramt in ihrer Tasche. Legt sich ihren Schal zurecht. Falls sie ihn braucht. Und das Handy auf den Tisch. Falls es läutet. Laut ist es hier. Sie nimmt das Handy und schaltet die Lautlosfunktion aus. Damit sie es auch hört, falls es läutet. Und dann bestellt sie. Kaffee mit Schlagobers und ein Viertel Leitungswasser dazu. Und eine Schokorolle. Mit einer Serviette bitte. Weil sie immer eine Serviette braucht. Sie atmet tief durch. Nimmt eine Zeitschrift aus der Tasche. Und ihre Zigaretten. Zündet sich eine an, nimmt einen tiefen Zug davon. Es war die letzte, sie zerknüllt die leere Packung. Gerade als das Bestellte serviert wird, läutet das Telefon. Widerwillig hebt sie ab, weil sie jetzt eigentlich ihren Kaffee genießen will. Aber dann freut sie sich, weil es Spaß macht, sich mit der Freundin zu unterhalten. Und ißt einfach nebenbei.


Man müßte ihr den Kiefer brechen. Rolf überlegt. Ja, man müßte ihr den Kiefer brechen. Eine Zahnspange hat sie schon. Aber das allein wird nichts nützen. So, wie das von der Seite aussieht, ist der ganze Kiefer das Problem. Müßte alles neu arrangiert werden. Und er denkt an ihre Muschi. Pussy. Wie auch immer. Eben an dieses Ding da unten. Oder besser diese Stelle. Er denkt an diese Stelle da unten. Er denkt an diese Stelle zwischen ihren Beinen. Und wie sie ißt! Er schüttelt den Kopf. Einfach die ganze Partie - Nase, Mund und Zähne, Kinn. Schrecklich. Auch wenn sie redet oder lacht. Aber besonders dieses Essen mit offenem Mund. Einfach grausig. Er stellt sich vor, mit einer solchen Frau daheim am Frühstückstisch zu sitzen. Und eine solche Frau küssen zu müssen. Und er denkt an ihre Brüste. Und hört wieder auf damit, weil sie so wenig aufregend wirken. Höchstens ihre Nippel, Nippelchen, Brustwarzen könnten interessant sein. Sie ist nicht direkt ekelerregend, so wie eine ungepflegte oder wirklich häßliche Frau. Sie ist es auf eine subtile Weise. So im allgemeinen ist sie eine durchschnittliche, unauffällige junge Frau. Aber bei genauerem Hinsehen wird es zunehmend widerlich. Ein bißchen wirkt ihr Mund wie ein Fischmaul. Und wer möchte schon einen Fisch küssen, genaugenommen sein Maul. Oder mit ihm am Frühstückstisch sitzen. Er schüttelt sich innerlich. Leider ißt sie langsam und daher immer noch. Er denkt an Fischmaul und Schwanz. Ob das etwas wäre. Aber Schwanz und Ekel, das ist nichts. Zumindest nicht für ihn. Er muß sich ablenken. Woandershin sehen. Oder woandershin gehen. Ob sie glücklich ist oder traurig, unglücklich oder froh - es interessiert ihn nicht.


Es ist so banal wie aufregend, das Leben, denkt Sebastian vor sich hinsinnierend. Den großen, schlaksigen Mann betrachtend, wie er seit geraumer Zeit die Frau im Fauteuil fixiert. Als hätte er sich an ihr festgebissen. Das Banale ist aufregend, und das Aufregende banal. Er überlegt, ob er sich heute Abend betrinken soll oder nicht. Und sich bei dieser Gelegenheiten vielleicht einen kleinen Joint genehmigen. Einfach wieder ein bißchen abtauchen. Wohldosiert, weil routiniert. Er verschiebt die Entscheidung auf später. Sieht sich statt dessen um. So jung, die Kleine dort hinten. Blutjung, könnte man wohl sagen - wenn er nur wüßte, was dieser Begriff genau meint. Wie frisch erblüht ist sie, war gestern noch Knospe. So eine beginnende Frau, die in manchen Männern ein ganz besonderes Ziehen verursacht. Und zugleich noch ein zorniges Kind. Zornig und trotzig. Gegen sich und die ganze Welt. Sich unverstanden fühlend, und ungeliebt und völlig unzulänglich. Davor war sie nur Kind. Vielleicht ein glückliches Kind. Ein dreckiges, glückliches Kind, im Idealfall. Er schmunzelt. Eines, das wirklich leben hat dürfen. Aber vielleicht war da auch eine kalte Mutter oder ein beängstigender Vater. Ein jähzorniger, gewalttätiger Vater, wo die Schläge vielleicht gar nicht das Schlimmste sind. Wo vielleicht die Atmosphäre, daß es gleich passieren könnte, wenn man nicht ganz gut aufpaßt, noch schlimmer ist. Oder sie war so ein angepaßtes, braves Mädchen mit angepaßten, braven Eltern. Und morgen schon wird sie selbst Mutter sein.


Eva ist genervt. Einfach nur in Ruhe hier sitzen, mehr bräuchte sie gar nicht. Was will eigentlich der da neben ihr? Soll das ein Flirt sein? Und warum redet er nichts mit seinem Freund oder Bruder oder Chef oder Wemauchimmer? Der so eigenartig wirkt. In männlicher Hinsicht, und menschlich auch. Wenn ich mir vorstelle, wie er allein daheim wixt, denkt sie - nein, danke, lieber nicht. Du meine Güte, nein - geh weg, Phantasie, geh! Sie wendet sich ab. Schließt ihre Augen. Fühlt, wie die Wirkung des Medikaments langsam nachläßt und ihre Gedanken wieder auftauchen. Was soll sie nur tun? Muß man die Babys, die man im Bauch hat, auch zur Welt kommen lassen? Sie weiß es nicht. Denkt an die Gespräche, die sie darüber zu führen versäumt hat. Und träumt von ihrem Baby. Sieht es in roten Latzhosen durch eine Wiese laufen. Und winzigst, kalt und tot in einer Metallschale liegen. Sie denkt an die Schule, und an ihr Studium, und an ihre Pläne mit der Welt. Nur nicht darüber reden. Die Menschen würden kein Verständnis haben, da ist sie sich sicher. So wie dieser ältere Mann da, der mit dem Rücken zu ihr sitzt. Liest in einem Buch, oder scheint es zu wollen. Er wird so um die Vierzig sein. Und lebt sicherlich ganz korrekt vor sich hin. Sie schließt wieder die Augen. Will keine Ablenkung mehr, will nur wieder in ihren Träumen versinken.


Es hat keinen Sinn. Johannes schließt sein Buch. Die Worte halten ihn nicht fest. Warum auch immer. Seit über einer Stunde beschäftigt er sich mehr mit den Menschen um ihn, als mit den Zeilen seines Buches. Sein Blick fällt auf ein Pärchen. Er ist nicht schön, und sie auch nicht. Aber sie sind verliebt. Sie trinkt Eistee und er Bier. Und raucht Marlboro. Sie schmiegt sich an ihn, und er brummt zufrieden. In gewisser Hinsicht haben sie auch etwas Gehemmtes. Und wirken, als wäre es etwas Besonderes für sie, hier zu sein. Als hätten sie es richtiggehend geplant. Ganz anders die beiden hier rechts, er und sie. Er sieht nur die Augen der Frau, und merkt - sie sind noch nicht vertraut. Und ein bißchen unsicher ist sie. Und hat etwas Zartes, Feines an sich. Sie sieht lieb aus. Wie eine zur jungen Frau gewordene Pippi Langstrumpf. Nur zarter und feiner. Aber doch mit Zöpfen. Sie genießt es sichtlich, ihm zuzuhören. Daneben zwei Männer in angeregter Diskussion. Leise, aber intensiv sprechen sie miteinander. Immer wieder bemerkt er verstohlene Berührungen. Und findet es traurig, daß sie so mutlos sind oder sein müssen. Besonders der eine. Er wirkt in seinem ganzen Wesen recht verschlossen. Der andere hat etwas Draufgängerisches an sich. Die Nähe zwischen ihnen ist fast körperlich spürbar. Es amüsiert ihn, daß alle Menschen in seinem Blickfeld in dieser besonderen Beziehung zueinander stehen. Nur die Frau ihm gegenüber ist allein. Robust und selbstbewußt wirkt sie. Doch es hat etwas Nervöses, wie sie da ein Papier- und Zellophanstückchen nach dem anderen zerkleinert. Obwohl sie es ganz nebenbei macht, ohne besondere Aufmerksamkeit für diesen kleinen Akt der Zerstörung. Manchmal bewegen sich ihre Lippen leicht, kaum merklich - so als führe sie Selbstgespräche. Ihr Blick ist gedankenverloren.


Es war nicht nur die Tante. Es war auch die Stimme ihres Bruders, die Valeria immer wieder in ihrem Kopf hörte. Sie waren alt. Der Bruder zwar nicht an Jahren, aber innerlich. Wie Mädchen sind und zu sein haben, und die Menschen und überhaupt die ganze Welt. Sie wußten es ganz genau. Und hatten es ihr auch gesagt. Immer und immer wieder. Und nun wußte sie es auch. Gestern Abend. Sie erinnert sich an gestern Abend, als sie bei diesem Mann war. "Milch?" hatte er leise gefragt. Sie schreckte aus ihren Gedanken auf. Lächelte, dankbar für seine Behutsamkeit. "Ja." Sie sah ihn an. Und dann probierte sie das Wort: "Ficken!". Er grinste. Sie horchte in sich hinein. Aber es war nichts zu hören. Sie spürte nur, wie die Tante in ihr zusammenzuckte. Jetzt mußte auch sie grinsen. Das war ein gutes Wort. Ein wirksames Wort. Sie würde es sich merken. "Ja?" sagte er gedehnt, sie unverwandt ansehend. Sie überlegte. Sollte sie noch eins draufsetzen? "Fick mich!" Er stand auf, ging um den Tisch herum auf sie zu. Und die Tante rang nach Luft. Und sie sagte es noch einmal: "Fick mich!" Und er wollte sich an sie drängen. Und die Tante begann zu kreischen. Und sie sagte zu ihm "Laß mich in Ruhe!". Und er sagte "Du spinnst doch!" Und sie flüchtete hinaus auf die Straße und war ein bißchen zittrig und atmete tief die kühle Luft ein. Und er warf ihr durch das offene Fenster ihren Mantel hinterher. Im Versuch, all diese Gedanken abzuschütteln, beginnt sie Ordnung auf dem kleinen Tischchen vor sich zu machen. Stapelt Tassen und Teller. Streift die vielen kleinen Stücke der Traubenzuckerpackung vom Tisch in den Aschenbecher. Leert langsam das Wasserglas. Dann lehnt sie sich wieder zurück, läßt ihren Blick umherschweifen. Beobachtet durch die große Fensterscheibe eine alte Frau, die langsam mit ihrem Einkauf den Vorplatz überquert. Sie geht nach Hause. Sie geht nach Hause und räumt gleich alles weg. Das ist ihr Problem, denkt sie. Sie räumt gleich alles weg, weil sie nichts hat, das sie davon ablenken würde, und weil sie nichts hat, was sie zu müde gemacht hat dafür. Und dann setzt sie sich, und schaltet das Radio ein. Hört die 17-Uhr-Nachrichten. So wie jeden Tag. Das ist ihr Problem.


BRACHLAND


Sie ist schon wieder weg. Einfach weg. Einfach so. Schon wieder. Seufzend macht sie sich auf, sich zu suchen. Einmal mehr.

Sie klettert aus ihrem Bett, etwas müde noch. Es ist ein großes, tiefes, weiches Bett voller Polster und Decken. Sie streicht sich den Rock glatt und auch die Bluse. Richtet ihr Haar. Dann geht sie ins Wohnzimmer und stellt die Musikanlage an. Laute Arien machen sie glücklich. Sie legt sich auf ein Sofa, lässt sich von der Musik erfüllen. Bis ihr nach frischer Luft ist, und sie aufsteht um das Fenster zu öffnen. Früher war sie noch zornig. Aber das hat sie ebenso vergessen wie die Gründe dafür. Die meiste Zeit über jedenfalls. Sie geht zurück zum Sofa, legt sich wieder hin. Denkt nach. Ich entferne mich immer von etwas und ich nähere mich immer etwas, denkt sie. Und immer öfter hänge ich nur da unten am Ende dieser Pendelschnur. Und dann sind die Gedanken wieder weg und sie lächelt.

Ein wenig später schreckt sie hoch. Hat es geläutet? War das die Türglocke? Ja. Sie überlegt, ob sie darauf reagieren soll. Und geht dann langsam durchs Haus und zur Tür hinaus, den Weg entlang zum Gartentor. Irgendein Mann steht dort. Von weitem sieht er eine schön-elegante Frau den Weg entlanggehen. Doch als sie näher kommt bemerkt er, dass die Kleidung fleckig und das Haar ungewaschen ist. "Aloisia Herz?" "Ja." Gut riecht sie nicht, nein. Ein Brief und eine Unterschrift und ihr zerstreuter Blick. Er spürt ein Leben voll Abwesenheiten. Dann geht er wieder. Ist wieder weg. Gut so, denkt sie, gut. Mit langsamen, fast bedächtigen Schritten geht sie zurück.

Schön ist es im Garten, in der Sonne. Wirklich schön. Die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut. Eigentlich schade, dass sie die meiste Zeit auf ihren Garten ganz vergisst. Sie schiebt die Ärmel ihrer Weste zurück, öffnet ein paar Knöpfe ihrer Bluse. Setzt sich auf die alte Steinmauer. Die Reste der Steinmauer. Schöne Reste sind das. Mit einer Hand stützt sie sich ein bisschen ab, die Innenfläche der anderen lässt sie sacht über die raue Steinoberfläche gleiten. Dieses Gefühl zusammen mit dem erwärmten Steingeruch gefällt ihr. Sie schließt ihre Augen, lächelt. Wendet ihr Gesicht dem Himmel und der Sonne zu. Genießt deren wohlige Kraft. Bis in ihr Innerstes hinein kann sie es fühlen. Und die Füße im kalten Schatten. Ein merkwürdiger Kontrast, der tief in sie hineinwirkt.

Und in ihr etwas wachruft. Sie entsinnt sich ähnlicher Empfindungen. Ähnliche Farben, aber angeordnet zu einem ganz anderen Thema. Es war auch dieses sich ausbreiten einer wohligen Wärme, beginnenden Hitze von der einen Seite – und diese sich beunruhigend wandelnde Kühle von der anderen. Bis sie sich in ihrer Mitte trafen zu einem verwirrenden, heftigen Kampf, feuchte Spuren hinterlassend. Wieder und wieder ihre Hingabe an diesen verführerischen Sog, trotzdem sie daraus immer mit diesem kalt schauernden Gefühl wieder auftauchte.

Ihre Augen öffnen sich. Sie mag nicht mehr hier sitzen. Schließlich erhebt sie sich und geht zurück in Richtung Haus. Ein Auto hört sie langsam vorüber fahren und die Schuhe laufender Kinder am Asphalt und ein Vogel singt sein Lied. Sie will nach Hause. Nach Haus ins Haus.

Erleichterung fühlt sie, nachdem die schwere Holztüre hinter ihr wieder geschlossen und verschlossen ist. Sie atmet tief durch. Spürt, dass sie Hunger hat. In der Küche steht noch der Korb frischer Erdbeeren von gestern. Sie nimmt eine davon, führt sie zuerst an die Nase und steckt sie dann in den Mund. Rot und rund und rau und duftend. Und dann glatt, weich, feucht, süß. Diese Erdbeere, diese Erdbeere! Oh, diese Erdbeere. Eine nur, eine. Jede weitere würde sie dieser köstlichen Empfindungen berauben. Sie würde zwar etwas Gutes essen, vielleicht sogar viel davon. Aber Bissen für Bissen würde es ihr fast alles nehmen, was diese eine Erdbeere ihr zu geben vermocht hatte.

Was soll sie nun weiter mit ihrem Hunger anfangen? Sie sucht ein paar Lebensmittel zusammen. Schafft Platz dafür, indem sie schmutziges Geschirr in einer Ecke stapelt und zusammenschiebt. Fein säuberlich entfernt sie die schimmeligen Stellen von dem halben Brotlaib, bevor sie ein paar Scheiben davon abschneidet. Ja, Brot hatte sie zu ihm gesagt. "Die Art, wie du mit mir sprichst, fühlt sich an wie schimmeliges Brot." Das hatte sie gesagt. Dumpf war seine Reaktion gewesen. Auch den Käse befreit sie erst von angefaulten Ecken, bevor sie die Augen schließt und seinen milchig-mildwürzigen Duft tief einatmet. Dann gönnt sie sich einen Bissen davon, kaut langsam und genüsslich. Schließlich macht sie sich weiter daran, ihr Mittagessen zuzubereiten. Frischkäse streicht sie gleichmäßig auf die Brotscheiben. Ganz bis zum Rand. Das ist ihr sehr wichtig. Ganz bis zum Rand. Dann zerteilt sie eine Tomate in kleine Stücke und überlegt, ob sie ihre von Tomatensaft triefenden Finger ablecken soll. Als sie den Schinken aus der Folie holt, entfaltet sich sein rauchiges Aroma.

Sie nimmt den Teller mit den fertigen Broten und ein Glas Wasser mit ins Wohnzimmer. Setzt sich auf eines der großen, weichen, speckigen Sofas. Während sie isst, starrt sie auf den Fernsehbildschirm. Ton gibt es dazu keinen, schon länger nicht mehr. Wasser! Sie lächelt. Wie herrlich es ist, Wasser zu trinken!

Später dann beginnt sie durch das Haus zu schlendern. Betrachtet die Dinge, als wäre sie Gast. Berührt dort und da dieses und jenes. Kommt an der Kommode mit diesen vielen Bilderrahmen vorbei. Alle stehen sie verkehrt herum. Sie wundert sich. Nimmt einen davon, dreht ihn um und wischt mit dem Zeigefinger die graue Staubschicht vom Glas. Da ist immer noch eine feine Grauschicht, die sie stört. Sie hilft sich mit ein bisschen Spucke. Dann nickt sie, zufrieden mit dem Ergebnis. Fesch, denkt sie sich, ein fescher Mann.

Sie geht zwei Tücher holen, und einen kleinen Kübel mit Wasser. Gut riechen sie, die Tücher, frisch aus dem Schrank. Aber es waren die letzten. Sie seufzt. Taucht eines davon ins Wasser. Weich und warm. Weil sie das kalte wieder ausgeleert hatte. Fühlte sich nicht gut an. Kurz versinkt sie ganz in diese Warmwassergefühle ihrer rechten Hand, und den kleinen Duft der kleinen Spülmittelmenge darin. Denkt daran, wie sich das anfühlt, wenn man einen Gummihandschuh trägt. Herrlich, wie er sich festsaugt an der Hand.

Dann beginnt sie, Glas für Glas, Rahmen für Rahmen zu reinigen. Und fängt dabei irgendwann zu summen an, sosehr genießt sie es, wie glatt und glänzend die Oberflächen mit jeder Bewegung wieder werden. Und die schönen Bilder dahinter! Es sind viele Bilderrahmen, und sie arbeitet gemächlich vor sich hin. Hinter ihr bricht langsam die Dämmerung durchs Fenster herein. Als sie fertig ist, rückt sie die einzelnen Rahmen noch ein bisschen hier und dort zurecht. Die Spuren ihres Tuns in der Staubschicht auf der dunklen Holzkommode scheinen sie nicht zu stören. Sie betrachtet ihr vollendetes Werk und lächelt.

Bis es ihr wieder einfällt. Das sind ja blöde Bilder von blöden Wolfgängen! Wolf. Blöd und bös und reißend. Haut aufreißend und Fleisch. Und neu verwundet dreht sie alle wieder zur Wand. Und geht schnell weg. Nur schnell weg von diesem Schauplatz, Kriegsschauplatz.

Sie stolpert über etwas, fängt sich an der Rückenlehne ihres Fauteuils. Geht zum Lichtschalter, will das Licht aufdrehen. Nein, doch lieber die kleine Lampe, die heimelige, weiches Licht. Weich und sanft, versinken. Sie zuckt ein wenig zusammen. Das nicht, nein. Zu dicht auf den Fersen ist ihr noch – was? Was war das? Ein Raubtier. Ein Raubtier hatte sie doch verfolgt. Also die große, helle Deckenlampe. Gut so. Sie setzt sich. Jetzt lächelt sie wieder.
Hebt die um ihre Beine streichende Katze hoch. Drückt sie an sich, vergräbt ihr Gesicht in ihrem seidenweichen, strohduftenden Fell. Sie strahlt. Die Katze rollt sich auf ihrem Schoß zusammen, beginnt unter ihren sanft streichelnden Händen zu schnurren. Wie wohlriechend diese Katze ist!

Aber sie stinkt. Und das mag sie nicht. Doch es fasziniert sie. Ihr Gestank. Der von anderen ekelte sie immer nur. Gut, denkt sie, gehe ich eben baden. Im Badezimmer entkleidet sie sich, während die Wanne sich mit warmem Wasser füllt. Als sie darin eintaucht, kurz untertaucht, fühlt sie sich nach langer Zeit wieder richtig lebendig. Ein Lächeln umspielt ihre Lippen. Sie betrachtet ihren Körper. Jung sieht er nicht mehr aus und alt auch noch nicht. Mit beiden Händen streicht sie über ihren Bauch, ihre Brüste. Weiß wieder, dass sie diesen Körper früher sehr gern gemocht hatte. Und dass sie ihn immer etwas runder und weicher haben wollte. Sie schließt die Augen. Lässt sich einfangen von den Empfindungen ihrer Haut. Und tief hineinfallen in all diese Vergangenheit in ihr.

Verluste verhindern. Sie erinnert sich. Verluste verhindern! Sie nickt. Aloisia, Aloisia … komm tanz mit mir, komm tanz mit mir …


Lyrik


DUUNDI


ankommen

ohne dornen


entdecken

verstecken


sich finden

sich binden


heim ohne weh


DIR DEINE MUTTER SEIN


was muss ich geben

was muss ich lassen

wer darf schleifen

wer darf fassen


DAS KIND


das kind dreht sich

das kind tanzt im kreis

das kind hört die musik

das kind hört die stille


das kind dreht sich

das kind tanzt im kreis

das kind sieht die farben

das kind sieht das licht


das kind dreht sich

das kind tanzt im kreis

das kind spürt die wärme

das kind spürt den sog


das kind löst sich

das kind löst sich auf


TAKE A LOOK AT ME

der vorhang schließt sich
es wirkt, als fiele er leicht
schweratmend, stöhnend
verschwindet mein antlitz dahinter

die an eine fortsetzung glauben
und nicht ein ende vermeinen
fühlen das beben der bodenbretter
auf denen sie sich niederließen

allein deren anwesenheit
vermag einen weiteren akt
die zeit erhielt keine rolle
komm, spiel dich frei


VISION


du

kommst auf mich zu

wir treffen aufeinander

deine hand

berührt

in einer kurzen vision

die meine

und dann

ein zurückweichen


schweratmend

kühl und nackt

bleibe ich zurück


SUCHE


müde

bin ich

dich zu suchen

in deinem labyrinth

die spuren

meiner schritte

sind sichtbar

ich weiß


vielleicht

lasse ich für dich

ein paar brotkrummen fallen

auf meinem weiteren weg